Als hätte mich Ayumi noch mehr gekränkt, saugte ich mehr Luft in meine Wangen, bis sie ungefähr so geschwollen waren wie die Wangen eines Hamsters, der gerade einen ganzen Küchenschrank geplündert hatte. Ich blinzelte, als könnte ich mir nicht mal vorstellen, mit einer Frau verwechselt zu werden. Natürlich war nichts daran, eine Frau zu sein, unangenehm oder schlechter als ein Mann, aber ich benutzte meinen beleidigten Ausdruck für einen komödiantischen Effekt. Ich war noch nie ein giftiger Typ gewesen, nicht einmal in meinen schlimmsten Momenten. Es ist schön sie lächelnd und grinsend zu sehen.
"Ich bin schließlich ein männlich-maskuliner Mann, echt jetzt."
Ich spottete über meine eigenen Worte, indem ich meine wirkliche gekränkte Stimme benutzte, die immer etwas höher war als meine Übliche. Mein beleidigtes Gesicht löste sich in dieser Sekunde auf und machte Platz für ein breites Grinsen und ein leises Lachen. Das war bereits in unserer Kindheit der Fall gewesen. Unordentlich!?
"Nur das Genie beherrscht das Chaos! Findest du wirklich?"
Aber cool! Ich lächelte Ayumi glücklich an. Vielleicht hatte ich es nicht aktiv bemerkt, aber natürlich hatte ich auf eine positive Reaktion meiner Zwillingsschwester gehofft.

Der absolut männlichste Mann, der je gemannt hat. Ich konnte nicht widerstehen meine Zeigefinger auszustrecken und sie gegen Kaitos aufgeblasene Backen zu drücken. es tat gut wieder herumzublödeln, wenigstens für den Moment ohne das Gefühl einer Barriere zwischen uns. Weißt du, Einbildung ist auch eine Bildung. Ich streckte Kaito kindisch die Zunge heraus, grinste und trat weiter ins Zimmer ein, um mir ein paar Sachen genauer anzusehen. Aber doch, ja, ich finde du hast durchaus ein Händchen für Dekorationen. Sind das alles Sachen die du selbst mitgebracht hast?

"Verdammt richtig, Schwesterchen!"
Wäre ich doch nur ein halber Mann... Wäre ein richtiger Mann einfach weggelaufen vor seinen Problemen? Ich ließ meine ganze Luft auf einmal aus meinen Wangen strömen, sobald sie diese drückte. Die heraus strömende Luft ließ an meinen geschützten Lippen einen Laut heraus, der wie ein Furz klang. Meine Wangen breiteten sich sofort in einem breiten Lächeln aus und ich konnte mir ein Lachen nicht verkneifen. Es mag kindisch sein. Aber auch wahnsinnig witzig. Ich streckte Ayumi sofort wie ein Spiegelbild meine Zunge dagegen heraus. Für einen kurzen Moment fühlte ich mich, als wären wir wieder Kinder, die in unseren Zimmern spielten. Wir wussten damals nicht, was auf uns zu kam. Wir hatten uns einfach immer gegenseitig den Rücken freigehalten. Vielleicht kann es wieder ähnlich sein.
"Ziemlich, ja. Ich meine, einige der Sachen habe ich schon vorher besessen, einige Sachen sind von Freunden, aber die meisten Sachen haben sich einfach auf Reisen angesammelt. Ich habe nie wirklich aufgepasst, denke ich. Es spielte keine Rolle, denn die meisten Dinge, die ich bekommen habe, waren entweder kostenlos oder wurden mir geschenkt."
Ich hielt einen Moment inne. Es ist Zeit.
"Abgesehen davon."
Ich deutete dann auch direkt auf eine große Box, die neben einem roten Halter stand, auf dem ein schwarzer Choker mit Nieten seinen Platz fand. Auf der Box befand sich eine gelbe Schleife. Ich ging ein paar Schritte auf das Regal zu und streckte beide Hände aus. Mit festen Händen ergriff ich die Box und hielt sie dicht an meine Brust gepresst, wie ein frisch geborenes Babykätzchen. Ok, es wird wirklich Zeit. Ich hoffe, sie wird es mögen. Dann setzte ich mich auf mein Bett und atmete tief aus - dabei rutschte ich zur Seite um genug Platz für Ayumi neben mir zu machen. Bevor ich mein Kinn hob und eben meine Zwillingsschwester anlächelte. Doch mein Mundwinkel zuckte vor lauter Nervosität. Mein Bein wippte am Boden. Ich hatte die Sammlung lange angefertigt und dennoch hatte ich Angst davor meine Gefühle verständlich erklären zu müssen.

Ich brach in Gelächter aus, wie es ein kleines Kind bei einem Fäkalienwitz getan hätte, denn ich hatte wirklich auf so eine Reaktion von Kaito gehofft. Eben genau so wie wir als Kinder gewesen waren, dumm und voller blödem Humor, wie ihn nur Kinder haben konnten. Ich lächelte immer noch amüsiert und lauschte Kaitos Erklärungen zu seinem Zimmer, wobei ich ab und an nickte. Hast du das ganze Zeug dann immer mit dir herum geschleppt? Ich folgte Kaito zu seinem Bett und zögerte tatsächlich keinen Moment, ehe ich mich neben ihn setzte, den Blick auf die große Box mit der gelben Schleife gerichtet, die mein Bruder sich eben geholt hatte. Das musste mein Geschenk sein, es war sehr viel größer noch als erwartet. Wo warst du nur überall?

"Nö. Die meisten meiner Sachen waren bei Freunden zu Hause oder irgendwo gelagert. Es hing wirklich davon ab, wie weit ich unterwegs war."
Ich grinste schief. Ich hoffe sie überlegt es sich nicht anders. Unbemerkt schluckte ich meine Galle, die wieder nach oben kam, wieder nach unten - das war jetzt wirklich kein passender Zeitpunkt um zu kotzen. Mit zuckenden Fingern hielt ich das Geschenk in meinem Schoß. Dann hob ich es hoch und setzte es vorsichtig in ihrem Schoß ab. Ich zog meine Hände rasch zurück und sah ängstlich zu. Ich sollte etwas sagen!
"So. Das ist es. Du kannst mich einfach nach den Stücken fragen und ich sage dir, warum oder wann ich sie gekauft habe."
Es gab viele verschiedene Stücke in dieser großen Box zu finden. Zwischen weißem Papier eingepackt befand sich ein "FISH ON! ALASKA"-Pin, die Tarotkarte "Rad des Schicksals" aus New Orleans, ein "Jay and Silent Bob's Secret Stash"-Kühlschrankmagnet aus New Jersey, ein mit Moos bewachsener Stein in der Größe eines Straußen-Ei aus Island, ein Glas mit ein paar Unzen schwarzem Strandsand von den Küsten von Martinique und auch ein anderes Glas mit etwas völlig weißem Sand mit einer Murex-Muschel darin von den Seychellen, ein blau-weißer Teller aus Ungarn, eine Starbucks-Tasse aus Istanbul, eine kleine Münze aus Deutschland mit der Aufschrift "Baumwipfelpfad SCHWARZWALD", eine süß, Halskette mit einer Magnolie als Anhänger aus der Schweiz, ein T-Shirt mit der Blume des Lebens aus Nepal, ein originales Schnapsglas aus der Ukraine, ein Geschirrtuch mit einer italienischen Karte aus Pisa, ein reproduziertes kommunistisches Plakat mit gezeichneten sich ansehenden Zwillingen aus Thailand, eine wiederaufladbare Bahnkarte aus Mexico City, wunderschöne afrikanische Perlenstickerei von einem Eisvogel, ein japanisches Tee-Set und eine Glückskatze aus Tokio und zu guter Letzt ein Plektrum einer E-Gitarre von der K-Pop Band "Danpyunsun and The Sailors" mit ihrem Logo darauf. Zumindest glaube ich, das war alles. Ich war wirklich lange weg.
"Oder nicht. Aber jedes dieser Souvenirs ist für dich, echt jetzt."

Ich nickte abwesend auf Kaitos Antwort hin und fragte mich wer wohl all diese Freunde waren, ob Kaito noch mit ihnen Kontakt hatte und ob ich sie wohl jemals kennen lernen würde. Ich wollte alles über seine Reisen wissen, aber ich war mir unsicher wie ich ihn danach fragen sollte. Am Ende war es ihm unangenehm mit mir darüber zu sprechen und ich machte unseren Fortschritt wieder kaputt. Ich ignorierte, dass meine Finger leicht zitterten, als ich das schwere Paket öffnete und begann umsichtig in dem weißen Papier zu wühle. Ich befühlte einige Dinge, betrachtete sie in der Box und zog schließlich den großen Stein hervor, der schwer in meiner Hand wog, aber schön aussah, ich mochte Moos, es setzte sich immer und überall durch und war kaum zu stoppen. Nein, nein, ich möchte gerne Erklärungen. Sprich nur weiter mit mir, erzähle mir von deine Reisen. Wo ist das her?

"Oh ja, ich habe sofort an dich gedacht, als ich an diesem Ort ankam. Es war alles total grün dort, echt jetzt!"
Grün. Das hätte Ayu sicher gefallen! Ich fing an, es Ayumi in einem sehr aufgeregten Ton zu erzählen, ich konnte mich einfach nicht zurückhalten. Ich hatte viel Spaß beim Reisen gehabt. Aber ich war auch begeistert, dass sie dieses Souvenir zuerst ausgewählt hat. Die Ängstlichkeit, sie in der Kiste herum sehen zu sehen, verschwand ein wenig. Ich habe ihre Frage noch nicht beantwortet, hehe.
"Dieser Ort war natürlich Island."
Ich will ihr aber einfach alles erzählen! Ich grinste verlegen.
"Ich war auf einer dieser Touren, um die Nordlichter zu sehen. Während dieses sogenannten Mitternachtsabenteuers, das zwischen dem 1. September und dem 15. April stattfindet, kann man die Aurora Borealis mit einem Führer sehen. Und als ich diese wunderschönen Lichter betrachtete, dachte ich immer wieder... Wie sehr ich wollte, dass du das auch siehst."
Je mehr ich redete, desto reservierter wurde ich. Ich hoffe das war nicht zu viel. Wir haben uns technisch erst zum zweiten Mal wieder gesehen. Aber es war nur die Wahrheit! Ich hätte sie einfach gerne an meiner Seite gehabt! Ich verlagerte irgendwie mein Gewicht und hob meine Schultern etwas an, während ich meine Arme vor meiner Brust verschränkte. Es war schwierig einzuschätzen, ab wann es zu viel wurde oder was nicht genug war. Aber ich wollte ihr die Wahrheit erzählen und die war nun mal, dass ich sehr oft an sie gedacht hatte - wie ich ihr jedoch auch bereits verraten hatte.

Ich strich mit der Hand wieder über den Stein und ließ das eingetrocknete Moos wieder Grün aufleben, wie es wohl gewesen war, als Kaito den Stein aufgehoben hatte. Ich versuchte es mir vorzustellen, aber es fiel mir schwer. Der Stein stammte aus Island, einem Land, oder vielmehr einer Insel, die ich selbst zu gerne einmal sehen wollte, ich kannte nur sehr spektakuläre Bilder von dort, es musste wunderschön sein. Kaitos Erzählung allerdings, wobei seine Stimme erst begeistert und dann fast stockend zu mir drang, machte mich traurig, ein Gefühl, das ich gerade eigentlich wirklich nicht haben wollte. Ich wünschte mir diese Sache auch mit ihm geteilt zu haben, mit ihm dort zu stehen und die Nordlichter anzusehen, in mitten all diesem vielen, weiten Grün. Ich muss etwas aufmunterndes sagen, ich hab schon viel zu lange geschwiegen. Vielleicht sollte ich einfach das Thema wechseln? Nein, ich will das eigentlich nicht. Halt, ich weiß etwas. Vielleicht... könnten wir das nachholen? Meine Stimme war leise und vorsichtig, aber doch mit einem hauch Hoffnung versehen.

Hat sie das wirklich gesagt? Ich grinste.
"Das würdest du gerne machen? Echt jetzt?"
Das Glück und die Freude in meiner Stimme sprachen noch lauter als mein Gesicht. Mein Mund stand offen, während ich meine Zwillingsschwester aufgeregt anstarrte. All diese Möglichkeiten, all diese nie geteilten Momente, jetzt völlig offen und bereit für ein Abenteuer. Ich will das einfach zu sehr. Ich konnte es mir schon vorstellen, ich und Ayumi unter dem wunderschönen Nachthimmel und all dem Grün um uns herum. Dann leuchtete über uns das Aurora Borealis. Das wäre einfach perfekt, echt jetzt!
"Ich würde dir gerne alle Orte zeigen, an denen ich gewesen bin, Ayu! Ich könnte dir meine Freunde vorstellen, die ich auf dem Weg gefunden habe - wobei die meisten eher mich gefunden haben. Und dir vielleicht auch Teile der Welt zeigen, in denen du noch nie warst?"
Kann Ayu überhaupt für längere Zeit hier weg? Mum hatte als Stellvertreterin kaum die Villa verlassen. Es sei denn, es war geschäftlich gewesen, sonst hätte ich auf jeden Fall nicht oft bemerkt, dass sie wirklich gegangen oder gekommen war. Wir waren auch noch nie in einem Familienurlaub gefahren. Der Einzige, der jemals Urlaub gemacht hatte, war er. Mum wusste lange nicht, wann er zurück kommt. Ich wusste auch nicht einmal, was für Aufgaben Ayumi jetzt als stellvertretende Anführerin hatte. Sie musste erwachsen werden und Verantwortung übernehmen. Während du getan hast, als wärst du noch ein Kind all die Jahre, die du vorher nicht hattest.
"Wenn es mit dem Clan möglich ist, meine ich. Was hast du eigentlich für Aufgaben jetzt?"

Kaito reagierte so begeistert und motiviert wie ich es zuletzt gesehen hatte als wir Kinder waren und es brachte ein warmes, aber auch wehmütiges Lächeln auf meine Lippen. Ich konnte mich gar nicht mehr daran erinnern wann ich meinen Bruder zuletzt so gesehen hatte, es war einfach zu lange her. Ich freute mich also darüber es zu sehen, aber es schnitt mir auch ins Herz daran zu denken, dass ich diese Begeisterung so viele Jahre gemisst hatte. Ich ließ ihn erst einmal einfach vor sich hin reden und stellte mir vor wie es wohl sein würde mit ihm zu reisen, zu sehen was er gesehen hatte, seine Erfahrungen mit ihm zu teilen, seine Freund kennen zu lernen. Diese Vorstellung erfüllte mich mit großer Vorfreude und Hoffnung, die allerdings dann etwas gedämpft wurde, als Kaito mich an etwas erinnerte, das ich fast vergessen hatte. Ich runzelte die Stirn und verschränkte nachdenklich die Arme vor der Brust, nachdem ich den Moosstein wieder zurück in die Box gelegt hatte. Ganz ehrlich? Keine Ahnung. Mum lässt mich fast nichts machen, sie vergräbt sich in der Arbeit und sagt kein Wort dazu was ich machen soll. Unzufrieden zog ich die Nase kraus und schüttelte den Kopf. Manchmal hab ich das Gefühl es würde ihr gar nicht mal auffallen, wenn ich mal eine Weile weg wäre.

Ayumi hatte das schönste Lächeln - unter kleiner Ausnahme von Sandys Strahlen vielleicht. Ich hatte es immer geliebt, sie zum Lächeln zu bringen, aber ich konnte nicht anders, als zu bemerken, dass es auch ein bisschen traurig war. Es ist ganz in Ordnung. Alles in unserer Vergangenheit war ein bisschen traurig. Ich hatte das sehr vermisst, mit ihr zu sitzen, mit meiner Zwillingsschwester, sogar nur zu reden.
"Echt jetzt? Ich dachte nur, weißt du, vielleicht ist es mit euch beiden besser geworden?"
Ach Mum. Da hat sie sich eigentlich gar nicht verändert. Sie wirkte fast immer allein, wollte aber auch nie aufhören zu arbeiten. Ich runzelte meine Augenbrauen und spürte, wie unglücklich ich anfing selbst die Stirn zu runzeln, nur während ich Ayumi ansah, die ihre wie meine recht kleine Nase rümpfte. Ich streckte eine Hand aus und legte sie sanft über ihrem Kreuz ab. Warum hat sie nichts aus dem, was mit Keregi passiert ist, gelernt? Nein, ich habe kein Recht über Mum zu urteilen. Sie hatte es auch schwer. Ich seufzte langsam. Ich hatte jedoch einfach gedacht -oder eher falsch angenommen- dass die beiden enger zusammen gewachsen waren, seit ich weg war. Ayu muss viel allein gewesen sein...
"Das tut mir Leid. Ich werde ab jetzt an deiner Seite sein. Lass es mich dir beweisen. Ich werde dich unterstützen, egal was passiert."

Mum und ich kommen miteinander klar, aber... sie ist mehr wie eine entfernte Freundin. Verstehst du? Etwas hilfesuchend sah ich Kaito an, die Augenbrauen immer noch zusammengezogen, mittlerweile im perfekten Spiegel zu meinem Zwillingsbruder, wieder etwas, in dem wir uns recht ähnlich waren, schon seit unserer Kindheit. Ich zögerte allerdings keinen Moment mich erst in Kaitos Hand an meinem Rücken und dann gleich in seine Seite hinein zu lehnen. Ich wollte nicht, dass zwischen uns eine Barriere war, die uns davon abhielt uns näher zu kommen, also ging ich aktiv dagegen vor und suchte die nähe zu meinem Bruder. Schon okay, so ist Mum eben. Aber danke Kai, wirklich. Ich bin ganz ehrlich, hab ein bisschen Angst davor diese Hoffnung auszusprechen, aber vielleicht... wird es ja wirklich einfacher, wenn wir jetzt wieder zu zweit sind. Also mit Mum und... allem anderen halt. Die Augenbrauen immer noch zusammen gezogen sah ich zu Kaito hoch und konnte die eben erwähnte Furcht nicht aus meinem Blick verbannen. Hoffnung war mir schon zu oft ins Gesicht explodiert, ich hatte Angst davor, dass es wieder geschah.

Freunde ja, aber keine Familie. Als Kind hatte ich nie darüber nachgedacht, aber jetzt hatte ich Freunde auf der ganzen Welt, einige von ihnen hatten mich sogar zu sich nach Hause eingeladen, und keine ihrer Familien stand unserer auch nur im Entferntesten nahe. Manchmal hatte ich das Gefühl, Ayumi war die einzige richtige Familie, die ich je gekannt hatte. Vielleicht war mein Urteil zu hart, ich hatte ehrlich gesagt Angst, es auszusprechen. Aber diese Gedanken hatte ich schon seit Jahren. Also senkte ich meine Stimme, als ob uns jemand in meinem Zimmer hören könnte. Ob Ayu das genauso sieht?
"Ja ich verstehe dich. Als du in deinem Internat warst und sonst fast niemand hier, war es mit mir und ihr ziemlich ähnlich. Ich denke, ehrlich gesagt, unsere Eltern waren nie dazu bestimmt, Eltern zu sein. Denkst du das zu hart Mum gegenüber?"
Ich fühle mich wie ein Arsch Mum gegenüber, das zu sagen. Natürlich war unsere Mum sehr jung gewesen, also befürchtete ich, dass ich zu kritisch war - wenigstens war Mum nicht gewesen wie unser Erzeuger. Mein eigener Hilfe suchender Blick begegnete dem von Ayumi. Dort, in den anderen Familien die ich kennengelernt hatte, herrschte viel mehr Lachen und Necken und dieses warme Gefühl, das ich in meiner Brust bekam. Wie gerade jetzt, als Ayumi sich an mich lehnte. Vielleicht wird es jetzt besser, dass wir zusammen sind. So beängstigend wie das ist, darüber nachzudenken. Ich schluckte und hob nun meine andere Hand nach oben, um diese ganz vorsichtig über der Wange von Ayumi schweben zu lassen, zu der ich nun hinab sah. Warum war Familie für uns immer so beängstigend? Ich schmunzelte etwas unsicher.
"Weißt du, ich dachte gerade dasselbe. Das ist ein gutes Zeichen, denke ich."

Ich stieß einen Atemzug aus, von dem ich nicht bemerkt hatte, dass ich ihn aufgehalten hatte, als Kaito mir eröffnete, dass er der selben Meinung war wie ich. Meine Stirn glättete sich erleichtert, auch wenn ich immer noch ernst drein sah, denn dieses Thema war keins, das sich auf die leichte Schulter nehmen ließ. Unsere Mutter hatte ihre eigenen Probleme gehabt und hatte sie immer noch, das war uns beiden ohne Zweifel klar, aber sie war alles andere als eine Bilderbuchmutter gewesen. Ich denke, dass du recht hast. Mum war noch sehr jung, als sie uns gekriegt hat, viel zu jung, wenn du mich fragst, aber das war es nicht alleine. Selbst jetzt... ich meine, sie wirkt einfach nicht als ob sie jemals bereit für Kinder sein wird. Auch ich hatte meine Stimme zu einem Flüstern gesenkt, eine automatische Reaktion, nachdem mein Bruder damit angefangen hatte. Mum hat sich bemüht, aber... ich glaube Kinder zu kriegen war eine der schlechtesten Entscheidungen unserer Eltern. Ich war gerne am Leben, ich wünschte mir nicht nie geboren worden zu sein, jedenfalls nicht, wenn ich kein Tief hatte, aber ich sah es einfach vernünftig und von außen. ...abgesehen davon, dass sie Cousins waren... Das sagte ich noch leiser, kaum hörbar, selbst für mich. Dass Keregi und unsere Mutter Cousin und Cousine gewesen waren, war ein offenes Geheimnis, es wurde nicht verborgen, aber doch redete niemand darüber. Über Kaitos zögernde Hand über meiner Wange und seine Antwort lächelte ich dann doch selbst auch leicht und hob meine eigene Hand, um sie über die meines Bruders zu legen und sie gegen meine Wange zu drücken. Dass wir wieder anfangen das selbe zu denken? Es gibt sicher Diener die da einer anderen Meinung sind. Wir hatten als Kinder immerhin doch eine Menge angestellt und waren den Dienern mit unseren vielen Ideen furchtbar auf die Nerven gegangen. Nun grinste ich doch ein kleines Bisschen, denn diese Erinnerung bereitete mir Freude.

Als ich dieses Wort hörte, das mit einem 'I' begann, über das in unseren Kreisen nie jemand gesprochen hatte, zog ich Ayumi fast sofort näher an mich heran. Beinahe wollte ich sie vor allem schützen, worüber wir gerade sprachen. Leider hatte ich gehört, was sie gesagt hatte, weil ich genau dasselbe gedacht hatte. Ich fühle mich schmutzig, wenn ich nur daran denke.
"Ja... Ich habe das keinem meiner Freunde erzählt. Jemand hat mir einmal im Scherz gesagt, dass zwei unterschiedliche Augenfarben meistens ein Zeichen von Inzest irgendwo in deiner Blutlinie sind. Ich habe natürlich gelacht und getan, als wüsste ich nichts. Später habe ich es nachgeschlagen, es stellte sich heraus, dass er Recht hatte. Heterochromie kann ein Zeichen von Inzest sein und blaue Augen können es auch sein."
Den letzten Teil sprach ich dermaßen leise aus, dass ich fast hoffte, dass Ayumi mich nicht gehört hatte. Aber leider waren wir das perfekte Paar zu dieser Beschreibung. Ich habe zwei verschiedene Augenfarben und sie hat blaue Augen. Normaler Weise konnten die Leute über solche Dinge Witze machen, wie über weit entfernte königliche Verwandte, damals als Inzest eine normale Praxis gewesen war - aber nicht die eigene Mutter und der eigene Vater. Es ist auch ein Nebenprodukt von uns Adligen. Vor allem von diesen dämlichen Regeln!
"Ich denke, all das Zeug über Blutlinien und Adel und wer der Anführer eines Clans wird, ist sowieso nur veralteter Mist! Unsere Eltern hätten einfach niemals Kinder bekommen sollen. Aber ich kann nicht umhin froh zu sein, dass wir wenigstens als Zwillinge geboren wurden und nicht allein, echt jetzt."
Zuerst sprach ich ziemlich wütend, aber dann wurde mein Tonfall sanfter und weicher. Ich grinste.
"Ich denke, dann sollten sie sich besser warm anziehen!"